Die Psychologie ist noch eine vergleichsweise junge Wissenschaft. Ende des 19. Jahrhunderts erschienen erste wissenschaftliche Bücher zu psychologischen Themen, die den Weg für die Psychologie als Teil des wissenschaftlichen Kanons ebneten. Die frühe psychologische Forschung beschäftigte sich vor allem mit der Untersuchung von Gedächtnis- und Wahrnehmungsprozessen sowie mit der Entstehung psychischer Störungen. vor allem auf dem Verständnis psychischer Störungen.
Erst ab 1920 rückte die Persönlichkeit in den Blickpunkt psychologischer Forschung; allerdings sollte es bis etwa Mitte der 1940er dauern, bis sich die Persönlichkeitspsychologie als eigenständiger Bereich innerhalb der wissenschaftlichen Psychologie etablieren sollte. In den Anfangsjahren war dabei jedoch gar nicht klar, womit sich die Persönlichkeitspsychologie eigentlich beschäftigen sollte: Einige Forscher die Meinung vertraten, man könne sich der Persönlichkeit von Menschen am besten annähern, indem man einzelne Personen in all ihren Facetten („ganzheitlich“) beschreibt. Andere hingegen verstanden Persönlichkeit eher als Unterschiede zwischen Personen und versuchten grundlegende Eigenschaften zu finden, in denen sich Personen voneinander unterscheiden. Klar war nur: Es sollte die „normale“ Persönlichkeit untersucht werden, also unabhängig von psychischen Störungen. Dadurch sollte die Persönlichkeitspsychologie von anderen Bereichen der Psychologie abgegrenzt werden.
Obwohl die ganzheitliche Beschreibung einzelner Personen viele interessante Einzelfallstudien hervorgebracht hat, setzte sich dieser Ansatz letztlich nicht durch, da er aus wissenschaftlicher Perspektive stets nicht gänzlich zufriedenstellend war—denn selbst wenn es gelänge, eine Person in all ihren Facetten zu beschreiben, bliebe letztlich immer noch unklar, was an dieser Person „besonders“ ist und inwiefern bestimmte Merkmale dieser Person mit bestimmten Erfolgen, Misserfolgen, Leistungen oder Lebensereignissen in Verbindung stehen. Bis heute geht es in der Persönlichkeitspsychologie um die Untersuchung von stabilen Unterschieden zwischen Personen. Anders gesagt: Es wird untersucht, in welchen Merkmalen sich eine Person von einer Vergleichsgruppe unterscheidet. Nach diesem wichtigen Richtungsentscheid richtete sich der Fokus in der jungen Disziplin „Persönlichkeitspsychologie“ auf die Frage: Was sind die grundlegenden Merkmale der Persönlichkeit, in denen sich Menschen unterscheiden? Zur Beantwortung dieser Frage kristallisierten sich drei verschiedene Ansätze heraus.
Ein erster prominenter Ansatz war die Untersuchung von bestimmten Persönlichkeits- oder Charaktertypen—Personen mit ähnlichen Merkmalen wurden einem bestimmten Typ, also einer bestimmten „Art von Mensch“ zugeordnet (z.B. „oraler Charakter“, „Ikarus-Typ“). In einem zweiten Ansatz versuchten Psychologen—in der Anfangszeit tatsächlich ausschließlich Männer—mehr oder weniger intuitiv Merkmale zu identifizieren, die für das Leben von Menschen wichtig sein könnten. Einerseits war dieses Vorgehen stark von der Alltagspsychologie inspiriert, andererseits führte es nicht dazu, dass sich tatsächlich ein einheitlicher „Katalog“ von grundlegenden Merkmalen herausbildete. Welche Merkmale als „wichtig“ erachtet wurden, unterschied sich doch sehr stark zwischen verschiedenen Forschern. Um aus dieser Sackgasse zu entkommen, wurde eine überraschend einfache aber sehr wegweisende Hypothese entwickelt: Alle Informationen zur Unterschiedlichkeit von Menschen sind in der menschlichen Sprache enthalten. Anders gesagt, wenn sich Personen voneinander auf eine gewisse Art unterscheiden, ist dafür irgendwann ein Wort „erfunden“ worden, meist ein Adjektiv. Würde man alle Adjektive aus einem Lexikon herausschreiben, hätte man also eine endliche und einheitliche Anzahl von Merkmalen, in denen sich Menschen unterscheiden können.
Tatsächlich gab es amerikanische Forscher, die sich dieser Arbeit annahmen. Nach Ausschluss einiger extrem wertender Adjektive, veralteter und nicht mehr gebräuchlicher Adjektive sowie Synonymen wurden dabei 4500 Adjektive identifiziert, Spätere Forscher reduzierten diese Liste weiter, in dem zum Beispiel Adjektive ausgeschlossen wurden, die einen direkten Bezug zu Gesundheit haben oder die sich positive und negative Stimmung beziehen. Aus den letztlich verbliebenen Adjektiven—ca. 380 in einer wegweisenden Studie—wurde ein Fragebogen entwickelt. Diesen Fragebogen mussten die Versuchspersonen, ganz ähnlich wie Sie im Projekt Glimpse, einmal in Bezug auf sich selbst ausfüllen („Ich bin…“) und einmal in Bezug auf eine andere Person („Er/sie ist …“). Mit Hilfe von statistischen Verfahren kann das herausgefunden werden, welche Adjektive „zusammen gehören“, also in ähnlicher Weise beantwortet werden. Diese zusammengehörigen Adjektive werden dann zu sehr breiten, grundlegenden „Faktoren“ zusammengefasst.
Wie viele grundlegende Persönlichkeitsfaktoren gibt es nun also? In westlichen Ländern werden meist auf die eben beschriebene Weise meist 2, 3, 5, 6 oder 7 grundlegende Faktoren gefunden. Wie viele Faktoren es genau sind, hängt zum einen davon ab, wie genau die Liste der Adjektive reduziert wird: Werden Adjektive mit Bezug zur positiven oder negativen Stimmung beibehalten, findet man mehr Faktoren als wenn man diese Adjektive nicht berücksichtigt. Wird die Adjektivliste sehr stark gekürzt, so dass am Ende nur eine relative kleine und homogene Menge von Adjektiven übrig bleibt, werden weniger Faktoren gefunden. Zum anderen hängt die Anzahl der gefunden Faktoren auch von methodischen und statistischen Aspekten ab.
In der modernen persönlichkeitspsychologischen Forschung hat sich ein Modell mit fünf grundlegenden Faktoren—den sogenannten „Big Five“ der Persönlichkeit (emotionale Stabilität, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit)—etabliert und findet breite Anwendung. Es gibt jedoch auch sehr viele gute Argumente für ein Modell mit 6 Faktoren—das HEXACO-Modell, das Sie in den Erhebungen von Glimpse kennenlernen werden. Allerdings ist zu betonen, dass sich die Forschung zu Persönlichkeitsfaktoren sehr stark auf westliche Kulturen bezieht. In einigen afrikanischen Ländern wurden deutlich mehr grundlegende Persönlichkeitsfaktoren gefunden (11, 14 oder sogar 16), die sich nur sehr wenig mit dem Big Five oder dem HEXACO-Modell überschneiden.
Die Interpretation der Persönlichkeitsfaktoren, seien es nun 5, 6, 7 oder 16, ist oftmals nicht ganz einfach. Im Alltag sprechen wir oft von bestimmten „Typen“ („Neurotiker“) oder etikettieren Menschen als „introvertiert“ oder „neurotisch“. In der Persönlichkeitspsychologie werden Eigenschaften jedoch als Dimensionen verstanden. Das bedeutet, jemand ist mehr oder weniger neurotisch, introvertiert, ehrlich, offen, verträglich, gewissenhaft usw. und eben nicht „unverträglich“ oder „schludrig“. Dieses „mehr oder weniger“ bezieht sich, wie weiter oben erwähnt, immer auf eine Vergleichsgruppe.
Natürlich reichen 5 Faktoren nicht aus, um eine Person in ihrer Komplexität zu beschreiben, auch nicht 6, 7 oder 16 Faktoren. In diesen Persönlichkeitsmodellen geht es lediglich darum, eine möglichst sparsame und überschaubare Anzahl von grundlegenden Merkmalen betrachten zu können, die bei allen Personen mehr oder weniger stark ausgeprägt sind. Tatsächlich hat sich in den letzten Jahren in einer unüberschaubar großen Anzahl von Studien gezeigt, dass diese wenigen Merkmale ausreichen, um auch unterschiedliche Lebenswege und Lebenserfahrungen von Menschen beschreiben zu können. Zum Beispiel haben Personen, die gewissenhafter sind als andere, im Durchschnitt mehr Erfolg im Berufsleben und leben im Durchschnitt gesünder. Personen, die extravertierter sind als andere haben im Durchschnitt auch mehr Freunde als andere Personen und sind im Durchschnitt auch zufriedener als andere mit vielen Bereichen ihres Lebens. Personen, die weniger emotional stabil sind als andere, sind hingegen im Durchschnitt weniger zufrieden mit den meisten Bereichen ihres Lebens. Wichtig ist dabei, dass es sich dabei um Durchschnittswerte handelt. Natürlich kann eine Person, die extravertierter ist als andere, auch weniger Freunde haben als andere Personen oder mit ihrem Leben unzufrieden sein. Eine Person, die gewissenhafter ist als andere, kann im Einzelfall auch ein ungesundes Leben führen—die Erkenntnisse, die in Forschungsarbeiten und Studien wie Glimpse gewonnen werden, beziehen sich niemals auf Einzelfälle und können diese im Zweifelsfall auch gar nicht gut beschreiben. Das Ziel in der Persönlichkeitspsychologie, wie auch in allen anderen Wissenschaften, ist es, Gesetzmäßigkeiten und bedeutsame Muster zu finden.
-Verfasst von Prof. Dr. Marcus Mund, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, adaptiert von M.Sc. Amina Aissaoui


